Web Accessibility in Wien – A-TAG 2014 Spätlese

Aber jetzt! Mal sehen, was mir noch geblieben ist von einem Event, das nun bereits einen Monat zurückliegt: Zuallererst Respekt für den harten Kern von accessiblemedia, der heuer wieder eine Web Accessibility Tagung in Wien auf die Beine gestellt hat.

Die Präsentationen gibt’s alle zum Nachlesen.

Der tiefere Sinn von Tagungen

Das Programm klang für Web EntwicklerInnen nicht sooo aufregend, dass ich von weit her dafür angereist wäre: breit angelegt, auch Firmenpräsentationen, keine Publikumsmagneten. Aber es war dann erstaunlich interessant.

Und es ist immer wieder schön, mit den engagierten und gescheiten Leuten aus der Barrierefreiheits-Szene zu reden. Vielleicht sind sie zugänglicher und bunter zusammengewürfelt als die uniformer coole Crowd auf anderen Webkonferenzen. Ich habe das schwer aussprechliche Wort Accessibility in den Pausen zwar nicht in den Mund genommen, aber mich prächtig unterhalten über verschlungene Lebenswege, Veganismus, Kommunen auf dem Lande, Maskulinisten, aus Alpentälern vertriebene Protestanten, ausgerenkte Schultern, Bandscheibenvorfälle und – doch eine Spur fachspezifisch – über CMS Umstellungswehen, mühsame Workflows für barrierefreie PDF Dokumente und die Arbeit einer Schriftdolmetscherin.

Die angenehme Konferenzatmosphäre beim A-TAG macht auch eingefleischte IT-Menschen mit Small-Talk Phobie gesprächig. Wenn man zu viel seiner Lebenszeit vor dem PC verbringt, während draußen die Sonne scheint, und sich des öfteren fragt, wozu man denn eigentlich nütze ist in der Branche, ist das bei solchen Anlässen entstehende Wir-Gefühl motivierend: Wir sind abseits vom Broterwerb immer noch dazu da, das Web gut und für alle Menschen benutzbar zu machen.

Die Keynote Sprecherin Meral Akin-Hecke ist eine wunderbare Botschafterin dafür. Ihre volksbildnerische Arbeit macht sie nun auch im Rahmen ihres EU Ehrenamts als erster Digital Champion Österreichs in einem neu gegründeten Institut zur Förderung digitaler Mediennutzung.

…etwas Neues zu hören

Natürlich geht man primär auf eine Tagung, um etwas Neues zu erfahren.

Das größte Aha-Erlebnis hat mir der Vortrag von Elisabeth Kleinmaier von VerbaVoice beschert, weil ich bislang der Meinung war, dass die WCAG Anforderung nach Transkription oder Untertitelung von Live-Streamings ziemlich unrealistisch ist. Nun gibt es aber einen Markt und mit dem Münchner Unternehmen VerbaVoice auch den bislang einzigen Anbieter in Europa für Live-Streaming mit Live-Text und Gebärden für inklusive Veranstaltungen und Institutionen.

Sie arbeiten via Internet mit einem Pool von 1.500 Dolmetscher_innen für Gebärdensprache, Schrift und Simultanübersetzung zusammen für verschiedenste Schriftsprachen und Gebärdensprachen. Sie haben auch einen MediaPlayer entwickelt, der parallel Video, Transkription und Gebärdensprachübersetzung anzeigen kann. Eine Kurzschaltung zur parallel stattfindenden re:publica in Berlin, bei der die Sessions auf der Hauptbühne live transkribiert wurden, zeigte die Möglichkeiten des Systems.

Auch die Vorträge des A-TAGs wurden live transkribiert, mit sichtlich unterschiedlicher Qualität. WCAG (amerikanisch ausgesprochen Wicag) mit „wicked“ zu übersetzen war unfreiwillig komisch. Ich hätte gern gewusst, welche Schriftdolmetscher_innen da wo genau sitzen und höchstkonzentriert eine kleine Insider Tagung mit lauter komischen Abkürzungen abschrifteln.

Live-Transkription
(c) Eric Eggert, www.flickr.com/photos/yatil/

 

Am wenigsten Aha-Erlebnis hat mir die Aufzählung von sicher sehr guten Accessibility Features von Samsung Smartphones beschert. Als nicht gemeinnütziges Großunternehmen präsentiert man in so einem Umfeld naturgemäß unter erschwerten Bedingungen und muss mit diversen Empfindlichkeiten rechnen.

Ich dachte mir beim Vortrag von Thomas Richter von Samsung, die Annahme kann nur ein Mann treffen, dass eine gehörlose Mutter nicht merkt, wenn ihr Kind schreit und dass sie deshalb einen Baby Cry Detector gut gebrauchen kann. Ein Bekannter, der in Väterkarenz seine Kinder betreut hat, hat sich an der Männer diskriminierenden Sprachverwendung gestoßen. So sensibel sind wir…

Direkt Verwertbares für die KollegInnen

Barrierefreiheit von Redaktionssystemen (CMS)

Kertin Probiesch hat über CMS und andere Autorenwerkzeuge referiert, die ja laut den ATAG (Authoring Tool Accessibility Guidelines) auch im Backend barrierefrei sein sollten. CMS müssen barrierefreie Inhalte ausspucken und, um sie bedienen zu können, sind die Anforderungen im Backend die gleichen wie im Frontend.

Häufige Probleme sind Bedienelemente / Icons ohne Textersatz, mangelnde Tastaturbedienbarkeit und generell eine mangelhafte semantische Struktur, die man ohne grafische Oberfläche nicht verstehen kann. Es tut sich aber doch einiges. Drupal ist auch in der grundlegenden Herangehensweise ein Vorreiter, indem es Accessibility Mängel als Bugs ansieht, die systematisch abgearbeitet werden wie andere Fehler auch.

Accessibility concerns are bugs and should be added to the issue queue for projects where they are applicable.

Vom W3C gibt’s einen sogar recht aktuellen Implementation Report für häufig verwendete Autorenwerkzeuge (in einer Entwurfsfassung).

Barrierefreiheit von WordPress Plugins

Michael Rederer von wien.at hat Microsites vorgestellt, die sie mit WordPress produzieren. Wolfram Huber von web-tech hat dafür einen Accessibilitytest der verwendeten Plugins, (PDF) gemacht, der ganz interessant ist, um generell ein Gefühl zu bekommen, wo es hakt.

Teils hat es geklappt, den Ball an die Plugin Entwickler zurückzuspielen, teils nicht. Eine Adaption des default bbPress Themes und einen Fork, der das 2-Click Social Media Plugin tastaturbedienbar macht, gibt’s zum Download. Bei letzterem wäre wohl auch der Programmierer von heise.de gefragt, um das Original zu reparieren.

Barrierefreie PDFs

Für barrierefreie PDFs gibt’s seit 2012 auch einen ISO Standard: PDF/UA (ISO 14289-1:2012). Markus Erle hat die Umsetzbarkeit mit Office-Programmen, InDesign und für Formulare mit Tiermetaphern aus dem Dschungel versehen, um in unserem Gedächtnis zu bleiben. Seine Präsentation ist die schönste und umfassendste auf dieser Tagung, sehr praxisbezogen und so interessant zum Nachlesen, dass ich Sie bitte, sich da selbst ein wenig reinzuknien: Born to be accessible, Barrierefreie PDF-Dokumente gemäß PDF/UA effizient erstellen (PDF).

Tutorials

Eric Eggert hat die vielfältigen Materialien des W3C präsentiert, die Accessibility Know-how vermitteln. Die aktualisierten W3C Standards für Barrierefreiheit  sind alle auf Schiene. Und es gibt ungeheure Mengen an zusätzlichem Material, das die zwangsläufig etwas sperrig formulierten Richtlinien erläutert und Umsetzungshilfen liefert.

Die optisch nicht ganz aktuelle, aber technisch interessante Before- and After Demo ist einen Blick wert, um zu verstehen, dass man das gleiche Design barrierefrei oder unzugänglich programmieren kann. Tutorials für die Umsetzung der WCAG sind im Entstehen, aktive Mitarbeit ist willkommen.

Es gibt genügend Information zu Barrierefreiheit von Webinhalten im Netz. Die Google oder Bing Suche hilft in jedem Fall. Für Leute, die sich durch die Informationsüberfülle auf der W3C Seite überfordert fühlen, sind Plattformen wie webaim.org oder einfach-fuer-alle.de ev. ein leichterer Zugang.

Menschen mit Behinderung als Wirtschaftsfaktor

Die folgende Zusammenfassung von Vorträgen unter dieser Überschrift ist etwas zynisch. Aber es ist ein wichtiger Schritt für Minderheiten, zu ihrem Recht zu kommen, dass sie als wirtschaftlich relevant wahrgenommen werden.

EU Gesetzgebung

Über EU Gesetzes- und Standardsvorhaben für Barrierefreie Webinhalte hat Gregor Eibl vom Bundeskanzleramt gesprochen. Lustig an den EU Bestrebungen ist, dass die Rechtsgrundlage die Binnenmarktkompetenz ist. Nationale Unterschiede bei Barrierefreiheitsvorgaben stellen laut Argumentation der EU Kommission ein Hindernis für Unternehmen dar, die über Grenzen hinweg agieren wollen.

Mit erfrischender Ironie hat Eibl den mühsamen Weg durch die Gremien nachvollzogen, den ein kleiner Gesetzespassus zur Barrierefreiheit von öffentlichen Websites und in der öffentlichen Beschaffung durchwandern muss.
Kurz: es ist kompliziert, 73 Änderungsanträge für den Vorschlag der EU Kommission allein im EU Parlament bei der 1. Lesung. Der Standpunkt des Rats der EU sollte bald kommen. Für die schon recht fortschrittliche österreichische Gesetzgebung wird sich nichts ändern.

Barrierefreie Automaten

Der Wirtschaftsfaktor spielte auch eine Rolle beim bereits abgeschlossenen EU Projekt Internet of Things/APSIS4All, das Klaus Höckner von der Hilfsgemeinschaft der Blinden- und Sehbehinderten vorgestellt hat. Es geht um die Barrierefreiheit von Bankomaten und Ticketautomaten, die nun sukzessive weiterverfolgt werden soll, und die sich laut Businessplan auch rechnet, weil man dadurch noch eine Handvoll Menschen mehr hinter Schaltern einsparen kann.

Ich finde es schräg, dass ausgerechnet in einem krisengeschüttelten Land wie Spanien mittlerweile 1.300 Bankomaten umgerüstet wurden, um der Kaufkraft von Menschen mit Behinderung gerecht zu werden. So sie noch Geld haben, können sie es nun auch mit der Unterstützung von Gebärdensprachavataren, mit Sprachausgabe über Kopfhörer und im Kontrastmodus beheben.

Das reichere Deutschland stinkt da mit einem Pilotprojekt mit bislang 24 barrierefreien Ticketautomaten deutlich ab. In Österreich ist die Umsetzung von barrierefreien Bankomaten für Blinde und Sehbehinderte in Planung. In Spanien sind Menschen mit Behinderung stärker in die Gesellschaft integriert als bei uns. Es mag also auch daran liegen, dass Spanien bei diesem Projekt federführend war.

Leichter lesen für Millionen

Die Easy to read Bewegung hat ihr Betätigungsfeld ausgeweitet. Es geht ihr nicht mehr nur um die Kern-Zielgruppe Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern auch um die wirtschaftlich relevantere Gruppe von Menschen, die mit dem Lese-Niveau von U-Bahn Gratiszeitungen gerade noch zurechtkommt, aber darüber hinaus Lese- und Verständnisschwierigkeiten hat. In Deutschland und Österreich sind das, laut der Vortragenden Walburga Fröhlich von capito, 23 Millionen.

Easy to read Übersetzungen orientieren sich nun an der Globalskala, dem gemeinsamen Europäischer Referenzrahmen für Sprachenerwerb, der von A1 bis C2 reicht. Übersetzungen und Texterstellung werden für die Niveaus A1 und A2 (Elementare Sprachverwendung) und B1 (selbständige einfache Sprachverwendung) angeboten. Bei 2 Millionen potentiellen Internetnutzer_innen allein in Österreich, die sich auf dem Sprachniveau B1 bewegen, hat es gewiss auch wirtschaftlich einen Sinn, Internetinhalte einfacher lesbar zu präsentieren.

Emotionale Intelligenz für Maschinen

Auch Yehya Mohamad vom Fraunhofer Institut hängte seinen Vortrag über Emotions 4 All an einem Beispiel aus der freien Wirtschaft auf. In besonders effizient geführten Call Centern wird der Emotionsgrad in der Stimme von Anrufern gemessen. Anrufer_innen mit messbar mehr Ärger in der Tonlage werden automatisch Agents mit mehr Erfahrung und hoffentlich besserer Bezahlung zugewiesen.

Die Messmethoden für Emotionen sind vielfältig: Hautleitfähigkeit, Atem- und Herzfrequenz, Muskelspannung, Hirnsignale, Mimik, Gestik, Stimmanalyse usw. Die Einsatzgebiete für emotional intelligente Nutzerschnittstellen sind breit. In der bereits furchterregenden generellen Bürger- und Konsumentenüberwachung dürften sie lukrativer sein als in der Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Messung von Hirnströmen von Menschen, die ihre emotionalen Zustände und Bedürfnisse nicht mitteilen können, wie bei Autismus oder Zerebralparese, ist aber ein Forschungsbereich hier.

Ein Internet für alle impliziert auch ein freies oder ein unfreies Internet für alle.

Danke für den heurigen A-TAG. Hoffentlich nächstes Jahr wieder.